Picco wurde 2009 geboren, dieser Bericht ist aus 2012.
Als Pflegestelle nahm ich einige Jahre lang Katzen in Notsituationen auf. Die meisten meiner Schützlinge wurden im Laufe der Jahre vermittelt, es kamen immer wieder neue Tiere nach. Da ich die beiden ehemaligen Kinderzimmer als Katzenstuben nutzen kann, bot es sich an, werdende Katzenmütter oder Fundkatzen mit ihren Jungen aufzunehmen. Die Katzenmütter hatten dort einen ruhigen Raum für sich, in dem sie ungestört ihre Babies zur Welt bringen und die Kleinen versorgen konnten.
Nach einer gewissen Zeit durften alle immer das Zimmer verlassen und meine Wohnung immer wieder auf's Neue verwüsten, bis sie ein neues Zuhause gefunden hatten.
So hätte es auch mit Picco sein sollen.
Vor drei Jahren im Sommer erhielt meine Tierschutzkollegin einen Anruf, der sich so ähnlich abgespielt haben muss:
"Hallo, ich bin Frau XY und ich habe da ein Problem." (alle Antennen gehen hoch!) "Was ist denn Ihr Problem?"
"Ja, in meinem Garten im Schuppen sitzt eine Katze mit ihren Jungen."
"Die gehört niemandem?"
"Nein, hier gibt es ja viele herrenlose Katzen. Aber die muss da weg."
"Ist die Katze denn zahm? Können Sie sie anfassen? Haben Sie gesehen, ob sie eine Tätowierung hat? Wie alt sind die Jungen und wie viele sind es?"
"Ob die tätowiert ist, weiß ich nicht, aber anfassen kann ich sie manchmal, wenn ich sie füttere. Ja, und die Kleinen, das sind fünf, die sind vielleicht so sechs Wochen alt. Aber die müssen da jetzt weg. Und mein Kater macht auch schon Theater."
(Aufstöhnen wird halbwegs unterdrückt)
"Frau XY, warum melden Sie sich erst jetzt bei uns? Es wird dringend Zeit, dass die Familie unterkommt. Wenn die Jungen noch älter werden, wird es schwierig, sie an Menschen zu gewöhnen. Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass in kürzester Zeit sechs unkastrierte Katzen in Ihrem Garten herumlaufen könnten?"
"Darum sag ich ja, die müssen da weg! Und mein Kater will die hier auch nicht!"
Das ist das "täglich Brot" meiner Tierschutzkollegin. In den letzten Jahren wurde es immer schlimmer, man las von sämtlichen Tierheimen und anderen Katzenschutzvereinen, dass es eine Katzenschwemme gäbe, dass immer mehr Katzen aufgenommen werden müssten und dass alle Pflegestellen bis unters Dach voll säßen. Uns erging es da nicht anders, aber ein paar Tage später hatte ich einige Stubentiger umgesiedelt und ein Zimmer für die kleine Familie bereit gemacht.
Besuch beim Tierarzt, Wurmkur etc. und Mama konnte mit ihren Kindern einziehen. Sie war ein wenig ängstlich und ihre fünf Kinder wussten noch nicht, ob man den Menschen trauen kann oder sich besser unsichtbar macht. Nach kurzer Zeit hatten sie sich aber einigermaßen eingewöhnt.
Fünf süße kleine Fellknäuel, drei Jungs und zwei Mädchen, tobten fröhlich herum und Mama saß zufrieden auf der Fensterbank und behielt den Überblick.
Doch zwei, drei Wochen später betrat ich morgens die Kinderstube und mir bot sich ein Bild, das ich nie mehr vergessen kann. In einem überdachten Körbchen lagen drei Katzenkinder, ein Katzenmädchen war in der Nacht gestorben und zwei Katerchen, eins davon Picco, hatten sich angekuschelt. Es sah aus, als hätten sie dem sterbenden Schwesterchen noch ein wenig Wärme geben wollen. Zu beschreiben, wie es in mir aussah, fehlen mir die Worte.
Am selben Tag schlief auch das zweite Katzenmädchen für immer ein.
Jeder, der so etwas schon erlebt hat, weiß, wie es mir danach ging und sogar heute noch, drei Jahre später, geht.
Die dann folgenden Tage waren furchtbar. Das Katzenzimmer mochte ich kaum betreten, wäre dann aber am liebsten rund um die Uhr drin geblieben um zu beobachten. Ein paar Tage war alles in Ordnung mit den anderen doch eines Morgens wurden wieder zwei Katerchen krank. Sie hatten ein wenig gespuckt, mochten nicht fressen und verkrochen sich. Ihr Fell sah struppig aus. Picco war gesund.
Gar nicht erst beim Tierarzt angerufen, die Beiden gleich in die Box und mit zitternden Knien zur Praxis gefahren. Auch diese Kleinen hatte das Virus erwischt, das nicht näher bestimmt werden konnte. Sie wurden sofort mit Antibiotika, Vitaminen und ich weiß nicht, was noch, behandelt. Ich fuhr täglich in die Praxis, sie wurden behandelt und nach einigen Tagen zeigte sich eine Besserung. Bis auf eine leichte Ataxie wurden sie wieder gesund. Man kann vermuten, dass ihr Immunsystem stärker war als das ihrer Schwestern.
Und dann traf es Picco doch noch. Sein Körperchen hatte so lange der Krankheit widerstehen können, aber es reichte dann doch nicht.
Picco erwischte es ganz schlimm. Als die Medikamente nach zwei Tagen keine Besserung bewirkt hatten, musste er stationär aufgenommen werden. Er erhielt seine Medikamente durch Infusion und musste drei Tage dort bleiben. An einem Freitag bekam ich den Anruf aus der Praxis. Schon die Nummer des Tierarztes auf dem Display meines Telefons hatte mich erstarren lassen, aber man sagte mir, ich könne den Kleinen abholen.
Da bekam ich nun meine Handvoll Kater, Etliches an homöopathischen Mitteln, ein paar Spritzen und zwei Dosen spezielles Aufbaufutter und durfte nach Hause fahren. Picco sah noch sehr krank und kümmerlich aus und ich hatte Angst vor dem, was da auf mich zukam. Was, wenn es ihm schlechter geht? Was, wenn ich das mit ihm nicht schaffe?
Ich baute zunächst eine Gitterbox auf, denn wo sollte ich ihn sonst geschützt unterbringen? Ein Klo brauchte ich nicht hineinzustellen, denn er war viel zu schwach es zu benutzen. Weiche Decke, ein kuscheliges Nestchen, das war die Ausstattung.
Und dann saß ich daneben und beobachtete ihn. Alle zwei Stunden bekam er Wasser mit der Spritze und ein bisschen von dem Aufbau-Futterbrei. Ab und zu ein frisches Handtuch unter den Po, weil er Pipi gemacht hatte. Immer wieder hielt ich ihn auf dem Arm und hoffte, dass es gut gehen möge.
Picco hielt durch und es wurde jeden Tag ein bisschen besser. Er lag in seinem Nestchen und schlief sehr viel. So bemerkte ich zunächst gar nicht, dass er nicht lief. Es war ja klar, dass er noch schwach war und erst wieder aufholen musste. Auch das Wackeln mit dem Köpfchen erklärte ich mir mit Schwäche.
Doch beim nächsten Tierarzttermin eröffnete man mir, dass er eine schwere Ataxie zurückbehalten hätte und wohl nie würde laufen können. Auf meine Frage, ob man dagegen nicht noch etwas tun könne, wurde mir geantwortet, dass man noch die Präparate, die er bereits bekam, weitergeben könne, aber wenn dann keine Besserung festzustellen sei, sei es sicher, dass er nicht mehr laufen würde und dann müsse man sehen...
Mir dämmerte, was der Satz bedeuten sollte und ich war entsetzt! Nicht mein Picco! Nicht das Katerchen, mit dem ich um sein kleines Leben gekämpft hatte! Nicht er, der mich mit wachen Augen ansah und nur nicht laufen konnte. Auf keinen Fall würde ich zustimmen, dass er eingeschläfert würde.
Und so ist Picco wohl eine der am schwersten behinderten Ataxiekatzen, die leben.
Picco und ich hatten den Kampf gegen die böse Krankheit gewonnen. Nun musste ihm das tägliche Leben erleichtert werden. Zunächst hatte ich ihn in der Gitterbox, dort war er sicher aufgehoben. Und man kann Näpfchen mit Futter und Wasser daran befestigen. Weil ich nicht sicher war, ob er mit dem Wassernäpfchen zurecht kam, besorgte ich sogar eine Nagertränke. Aber das hätte ich mir sparen können, damit wusste er nichts anzufangen. Er kam mit dem Napf ganz gut zurecht. Ich nahm ihn so oft wie möglich heraus, trug ihn herum oder setzte mich mit ihm auf's Sofa. Wir schmusten viel miteinander und er schlief gerne auf meinem Schoß.
Picco ist nicht inkontinent, aber anfangs passierte es oft, dass er in sein Bettchen machte. Ich versuchte es mit einem selbstgebauten Klo. Von einem kleinen Karton hatte ich eine Kante ganz weg geschnitten und den Karton mit einer Plastiktüte überzogen. Funktionierte leider nicht, weil er sich nicht alleine aufsetzen kann. Auch meine Hoffnung, er könnte wenigstens hinein- und wieder hinausrobben, wenn ich auch die zweite Kante kürze, war vergebens. Also blieb mir nur, immer wieder sein Bettchen frisch zu machen.
Allerdings lernte ich mit der Zeit, wann er das Zeichen gab, dass er mal musste. Dann schnappte ich mir den kleinen Kerl und sauste mit ihm los. Eiligst die Haube vom Klo runter, Picco reinsetzen und festhalten und warten, bis er fertig war. Sogar scharren wollte er. Manchmal musste er auch gar nicht - ich hatte ihn falsch verstanden und dann scharrte er nur in der Katzenstreu und hatte seinen Spaß dabei. Mir ging das allmählich doch ziemlich in den Rücken und ich machte mir wieder mal Gedanken.
Die Lösung war so simpel, dass ich mich fragen musste, weshalb ich darauf nicht schon eher gekommen war. Ich stellte ein Katzenklo ohne Haube in Arbeitshöhe im Badezimmer auf einen Wäschebehälter. Nun durfte Picco ruhig mal länger brauchen und eine Runde spielen, ich konnte ja aufrecht stehen.
So weit, so gut, aber ich bin nun mal voll berufstätig und somit viele Stunden nicht zu Hause. So lange kann ein kleiner Kater nicht einhalten. Ich brachte ihn morgens, bevor ich aus dem Haus ging und abends, sofort, wenn ich nach Hause kam, zum Klo. Meine Tochter, die von ihrem Arbeitsplatz nur ein paar Minuten bis zu mir braucht, fuhr in der Mittagspause schnell hin und übernahm so die "Mittelschicht". Sehr oft klappte das richtig gut, aber manchmal auch nicht und meine Wäscheberge wurden nicht kleiner. Das war für mich aber nicht das Schlimmste. Viel mehr machte mir der Gedanke zu schaffen, dass Picco manchmal in seinem nassen oder schmutzigen Bettchen liegen musste, bis ich nach Hause kam. Und wenn er großes Geschäft gemacht hatte und alles am Fell hatte, musste ich ihn anschließend baden, was er gar nicht leiden konnte. Er tat mir so leid. Wer schon einmal eine nasse Katze gesehen hat, weiß, was für ein erbärmlicher Anblick das ist. Ich wollte ihm das so gerne ersparen.
Und dann kam endlich die Idee mit den Windeln. Meine Kinder sind längst erwachsen, somit hatte ich keine Ahnung, was ich kaufen sollte und stand im Laden erstmal ratlos vor dem Windelregal, las alle Angaben auf den Kartons und Paketen, verglich Preise, Größen und Mengen miteinander. Ich hoffte, dass die kleinste Größe ihm passen würde und nahm ein Paket davon mit.
Seitdem trägt Picco meistens Windel. Das klappt super. Bevor ich sie ihm anziehe, muss ich natürlich ein Loch für seinen Schwanz hineinschneiden. Bei den ersten Versuchen fiel das noch zu groß aus, sodass er manchmal etwas aus der Windel verlor, aber man lernt ja! Inzwischen geht das ganz fix und passt. Wichtig ist auch, dass ich ihm die Windel verkehrt herum anziehe, sodass die Klebestreifen auf dem Rücken geschlossen werden. Das geht nämlich viel einfacher als unterm Bauch. (Genauer habe ich das unter dem Thema Windeln beschrieben.)
Damit war uns beiden geholfen. Ich hab ein gutes Gewissen und keine Wäscheberge mehr und Picco liegt im Trockenen. Ab und zu muss ich ihm noch den Po waschen, aber das ist nichts im Vergleich zu den Vollbädern, die er so furchtbar fand.
Als Picco sich von seiner Krankheit gut erholt hatte, merkte ich, dass er immer wieder versuchte, voranzukommen, es aber nicht wirklich schaffte. Ich habe ihn immer wieder hingestellt, bin mit ihm gebückt herumgelaufen, hoffte, er würde zumindest lernen, sich mit den Vorderbeinen voran zu ziehen. Aber alle meine Bemühungen brachten ihn nicht weiter.
Das war für mich eine ganz schlimme Zeit, denn wenn seine Brüder an ihm vorbeitobten, sah ich, dass er sie mit den Augen ganz aufmerksam verfolgte und gerne mitgemacht hätte. Seine Füßchen zuckten dann, aber er wusste nicht, wie er sie nutzen sollte. Ihm gerieten die Gliedmaßen immer durcheinander und ihm fehlte auch die Kraft. Ich habe oft dagesessen und mich gefragt, ob ich wirklich das Richtige getan hatte. Ob das Leben für ihn lebenswert wäre oder ob er durch meine Entscheidung ein leidvolles Dasein führen würde.
Aber dann dachte ich daran, dass es auch behinderte Menschen gibt, die nichts alleine können, nicht einmal sich artikulieren, und auch ihnen merkt man an, dass sie Glück empfinden.
Nach solchen traurigen Stunden und diesen Überlegungen fasste ich wieder Mut zum Weitermachen.
Ich besprach mit meiner Tierschutzkollegin, dass ich der Meinung sei, Picco brauche professionelle Hilfe, damit zumindest die Fähigkeiten, die ihm gegeben seien, gefördert werden könnten.
So wurde eine Bitte um Patenschaft für Picco auf die Website des Vereins gesetzt, seine Geschichte veröffentlicht, und es fanden sich tatsächlich sehr liebe und großzügige Paten für ihn. Ein echter Glücksfall, denn sie blieben auch die einzigen! Wie sind so dankbar!
Eine sehr liebe und fähige Tierphysiotherapeutin arbeitete seither ein Mal in der Woche mit ihm, er wurde massiert, damit er sich entspannte - anfangs hatte er häufig Spastiken, die wurden deutlich seltener - dann wurden seine Beinchen bewegt, sie übte mit ihm das Gleichgewicht zu halten und trainierte den Bewegungsablauf. Das alles zu einem Spezialpreis, sodass das Patengeld für die Behandlungen reichte.
An dieser Stelle: Danke, Birgit!
Nach länger als einem Jahr Behandlung machten wir uns nichts mehr vor. Picco wird nie laufen können, die Schädigung seines Gehirns ist zu groß, aber wenn er sich Mühe gibt, schafft er es manchmal dort hin, wohin er will, das ist doch auch was wert!
Wegen seiner Spastiken hatte ich einige schmerzhafte Erlebnisse. Ich lag eines Abends tatsächlich mal auf dem Sofa (dazu komme ich nicht oft), Picco lag in meinen Kniekehlen. Er fing dann an zu nörgeln und im Geiste ging ich durch: Hunger hat er nicht, Durst kann auch nicht sein, zum Klo waren wir eben – nehm’ ich ihn mal weiter zu mir hoch. Anscheinend war es das gewesen, Picco lag mit dem Kopf auf meinem Arm, war zufrieden und schlief.
Leider überfielen die Krämpfe ihn meistens im Schlaf und während wir noch Beide dösten, krampfte er heftig und biss völlig unkontrolliert und mit aller Kraft in meinen Arm. Ich bekam ihn erst gar nicht ab, seine Kiefer waren fest zusammengepresst. Dann wurde er wach, der Krampf ließ nach und ich hatte vier tiefe Löcher im Arm.
Katzenbisse sind gefährlich und so legte ich eine Kompresse auf die Wunde, stieg in mein Auto und fuhr zum ärztlichen Notdienst.
Das war auch so eine Geschichte für sich! Die Ärztin, die Dienst hatte (aus der Onkologie!) wunderte sich, weshalb ich kam, ich musste sie erst über das Risiko eines Katzenbisses aufklären. Dann bekam ich noch zur Antwort, dass sie ja keine Tierärztin sei. Na ja, aber dass Tiere auch mal Menschen beißen, hätte sie eigentlich wissen müssen...
Die Behandlung war in Ordnung, es ist weiter nichts draus entstanden. Die anderen Bisse waren weniger schlimm und ich weiß ja, dass er nichts dafür kann. Trotzdem bin ich jetzt vorsichtiger und halte ihm meine Finger oder Arme nicht mehr so direkt zum Reinbeißen hin.
Rundherum war für Picco gesorgt. Er konnte futtern und trinken, erhielt seine regelmäßige Bewegungstherapie, viele Schmuse- und Streicheleinheiten und war sicher in seiner Gitterbox untergebracht.
Tammi, die liebevolle Ersatzmama
Und er war nicht einsam! Wenn ich ihm auf dem Boden ein Nestchen gemacht hatte, besuchte ihn oft Tammi, eine liebe Katzenmutter, die bei mir auf der Pflegestelle ihre Jungen bekommen hatte und nun selbst auf ein neues Zuhause wartete. Tammi nahm sich des kleinen Picco rührend an und putzte ihn manchmal, dass ihm Hören und Sehen verging. (Die liebeTammi hat inzwischen ein sehr schönes Zuhause!) Als er sein Katzensofa bekam, musste das erst von den anderen ausgiebig beschnüffelt werden. Es fand Gnade vor ihren Nasen und Augen und Picco hatte auch dort öfter mal Gesellschaft.
Aber Besuch von den anderen konnte Picco nur bekommen, wenn ich zu Hause war, weil er sonst im Käfig saß und sie nicht hinein konnten. Ich wollte ihn unbedingt aus dem Käfig heraus haben.
Die Lösung fand meine ältere Tochter. Ich bekam von ihr das Laufställchen, das meine Enkelin nicht mehr brauchte. Den Boden befestigten wir so hoch, dass ich Picco bequem herausheben konnte, er aber nicht über den Rand klettern konnte. Die anderen durften Picco nun besuchen, wann immer sie wollten.
Piccos Tischmanieren lassen wegen der Ataxie sehr zu wünschen übrig, in den ersten Tagen waren die Gitterstäbe und die nähere Umgebung immer mit Futter eingeschmiert, das ziemlich hartnäckig klebte. Ich besorgte also dicke transparente Folie und verkleidete zwei Seiten des Ställchens damit. Das Futter klebte jetzt wenigstens nicht mehr überall, nur noch an der Folie! Auch kein Spaß, die sauber zu halten.
Bei all dem hatten wir jedoch vergessen zu berücksichtigen, dass die Gitterstäbe so eng stehen, dass zwar ein Kinderkopf nicht dazwischenpasst - ein Katzenkopf samt Körperchen schon. Ich kam eines Tages gerade noch rechtzeitig, um ihn aufzufangen, als er schon zur Hälfte aus dem Ställchen hing!
Wieder überlegen! Ein Katzennetz musste her. Das spannten wir an der Innenseite (er hätte sonst immer noch den Kopf dazwischen stecken können) einmal ringsherum. Folie ab und Picco bekam seine Mahlzeiten gemeinsam mit den anderen in der Küche. Er fraß auf der Seite liegend, wie die alten Römer. Die Bescherung ringsherum ließ sich anschließend bequem wegwischen. Es ist schon interessant, wie man sich Schritt für Schritt an Lösungen heranarbeiten muss.
Aber irgendwann blitzt die Idee auf und man wundert sich, wieso man so lange dafür gebraucht hat.
Trotz seiner regelmäßigen Therapie gelang es nicht, Picco wirklich mobil zu machen. Zwischendurch gab es Fortschritte, über die wir uns riesig freuten, aber auch Stillstände oder sogar manchmal Rückschritte, die wir nicht ignorieren konnten. Wir mussten realistisch bleiben, denn Picco war nicht damit geholfen, dass wir uns etwas vormachten.
Was kann man tun, wenn er es alleine einfach nicht hinbekommt? Dann muss ein Hilfsmittel her. Ich hatte schon Hunde mit ihren Gehhilfen gesehen, und natürlich wusste Piccos Therapeutin auch Bescheid. Auf der Website des Vereins wurde noch einmal um Spenden für einen Gehwagen gebeten, weil wir uns das so einfach nicht leisten konnten. Zu meinem großen Erstaunen und Piccos großem Glück kam tatsächlich eine große Summe zusammen.
Der nächste Glücksfall war, dass es gar nicht weit weg eine Werkstatt mit sehr engagierten Menschen gibt, die solche und andere orthopädische Hilfsmittel anfertigen. Nach Rücksprache über Piccos besonderen Fall fuhren Birgit, Picco und ich zu unserem ersten Termin.
Das Besondere an Piccos Fall ist, dass es für ihn nicht reicht, das Hinterteil zu stützen. Wenn er die Vorderbeinchen hätte nutzen können, um gezielt vorwärts zu kommen, hätte ein Wagen mit zwei Rädern für ihn gereicht, ähnlich wie ein Hunderolli. Aber sein ganzer Körper braucht Halt, er gerät immer wieder mit allen vier Beinchen durcheinander und weiß einfach nicht, in welcher Reihenfolge er sie benutzen soll.
Für die Konstrukteure seiner Gehhilfe war das eine neue Herausforderung.
Picco wurde zunächst vermessen, dann wurden die Ideen umgesetzt und nach kurzer Zeit konnten wir zur ersten Anprobe fahren. Noch einige Veränderungen, die auch sehr schnell vorgenommen wurden, und der Anruf: "Piccos Wagen ist fertig!" schickte uns wieder auf die Autobahn. Wieder Anprobe, noch ein paar kleine Änderungen, dann durften wir ihn mitnehmen.
Und waren gespannt wie die Flitzbogen, wie er damit zurechtkommen würde. In der Werkstatt hatten wir es zwar auch schon probiert, aber für Picco war die ganze Sache an sich schon aufregend genug. Er hatte reichlich damit zu tun, sich umzusehen und wusste gar nicht, was wir von ihm wollten.
Zuhause angekommen, fand dann die eigentliche Premiere statt. Oder auch nicht! Picco hatte immer noch keinen Schimmer, was das sollte. Wir schubsten ihn vorsichtig an, schoben auch den Wagen vorwärts, stellten seine Füßchen immer wieder neu hin und mussten erkennen, dass es auf dem glatten Laminatboden einfach nicht ging.
Daraufhin legte ich eine alte Badematte aus und richtig, ansatzweise kam Picco vorwärts. Er stieß sich mit den Hinterbeinen ab und kam dadurch immer ein Stückchen vorwärts. Durch das Üben konnten wir noch weitere notwendige Änderungen erkennen, so zum Beispiel, dass die Vorderräder fixiert werden mussten, denn sie sind um 360 Grad drehbar und Picco gelang es nicht, die Richtung beizubehalten.
Damit die alte Badematte wieder verschwinden konnte, kaufte ich einen Teppichrest, den ich im Wohnzimmer ausrollte - das war unser Catwalk! Auch so ein Versuch, den ich wieder verwerfen musste. Der Widerstand für die Räder war durch den Teppich zu groß, Picco hat nicht genug Kraft in den Beinen.
Marsik und die anderen fanden den Teppich toll! Man kann da so gut mit Anlauf drauf rennen und dabei tolle Tunnel aufschieben, die Menschen so herrlich zum Stolpern bringen - besonders, wenn man sich noch im Tunnel versteckt hat...
Der Teppich erfüllte seinen gedachten Zweck nicht, und nachdem Marsik ihn einige Male "verziert" hatte und ich ihn nicht mehr sauber bekam, war er ein Fall für den Sperrmüll. Sehr bedauerlich, denn er hatte meinem Wohnzimmer den besonderen Touch gegeben!
Piccos "Porsche" hat sein Leben nicht in dem Maße verändert, wie wir es uns gewünscht hätten, aber er wurde dennoch nicht vergebens angeschafft. Picco kann jetzt immer wieder mal die Welt aus der aufrechten Perspektive sehen, er kann ein bisschen hin und her rollern und, was ich auch ganz wichtig finde, er kann aufrecht im Stehen seine Mahlzeiten einnehmen.
An ein paar kleinen Erlebnissen mit Picco, die mich sehr berührt haben, möchte ich Euch an dieser Stelle noch teilhaben lassen. Piccos Physiotherapeutin war wieder bei uns, hatte mit ihm gearbeitet und ihn am Schluss auf sein kleines Sofa gelegt. Wir trinken dann immer noch zusammen Kaffee. Eigentlich war Picco ziemlich erledigt und hätte gleich einschlafen müssen, aber diesmal quengelte er herum und krabbelte vom Sofa. Wir dachten, dass er vielleicht noch in seinen Gehwagen wollte und setzten ihn hinein. Auch nicht! Er nörgelte weiter, und das kann er richtig gut. Ich sprach dann mit ihm und er sah mich an und antwortete mir immer wieder. Da meinte die Therapeutin: "Du, ich glaube, der will zu Dir."
Also nahm ich ihn auf den Arm und er wurde ruhig, schmiegte sein Köpfchen an mich, schloss die Augen und schlummerte zufrieden ein. Ich saß da mit ihm im Arm wie mit einem kleinen Baby und hatte vor lauter zärtlichen Gefühlen feuchte Augen. Er hat so viel zu geben und ich bin dankbar, dass ich sein Vertrauen und seine Zuneigung bekomme.
Und vor ein paar Wochen, es war ein sehr schöner Sommerabend, saß ich auf dem Balkon mit Picco im Arm. Ich streichelte ihn, massierte seine Füßchen ein bisschen und sprach leise mit ihm. Da erlebte ich zum ersten Mal, dass Picco treteln kann. So richtig die Zehen strecken und dann wieder Fäustchen machen, immer schön im Wechsel, rechts, links und dabei tüchtig schnurren! Das war für mich ein großes Geschenk, denn es zeigt mir, dass er sich wohl fühlt und Schönes genießen kann! Er spürt, wie lieb ich ihn habe und ich denke, das merkt er. Seine beiden Brüderchen, die auch die Krankheit überstanden hatten, haben Ataxien in unterschiedlicher Ausprägung zurückbehalten. Genauer kann ich das nicht einordnen, weil ich sie lange nicht gesehen haben. Sie haben bei Menschen mit einem großen Herz für Katzen und mit einem großen katzensicheren Garten ein tolles Zuhause gefunden. Picco hat es von den Überlebenden am schlimmsten erwischt, aber er hat hier für immer sein Zuhause.
Liebe Grüße
Ingrid mit Lilly, Lasse, Lena, Smutje und Sarah
und Marsik, Picco, Sina und all den Sternchen, die vor ihnen gegangen sind, im Herzen